Dilemma-Management

Ein Schiff unter Segeln in Fahrt hat jederzeit Entscheidungsbedarf.

Sei es bei Fragen zur Technik, zum Tourenziel, im Umgang mit der Mannschaft oder in der täglichen Segelroutine. Regelmäßig muss entschieden und verantwortet werden, wie widersprüchliche Antworten auf Fragen entschieden werden.

Wer bei der Führung eines Schiffes gelernt hat mit Dilemmata umzugehen, beherrscht dies auch im Geschäftsalltag. Ich habe in Personalgesprächen mit Führungskräften aus der Hamburger Elbregion den ein oder anderen Segler kennen gelernt, der Jugendkutterführer war. Ausnahmslos waren es herausragende Manager, die schon in ihrer Jugend mit 16 Jahren gelernt hatten, die Verantwortung für einen offenen Kutter und 8 Kids zu übernehmen, die ausgedehnte Törns ohne Maschine segelten und alle wieder heil nach Hause skipperten.

Hier ein paar Beispiele für Dilemmata, die uns an Bord begegnet sind:

Kein Sprit mehr!

Auf einer Rücktour von Helgoland nach Cuxhafen entschieden wir uns zugunsten einer zur Tide passenden Abfahrtzeit auf das Auffüllen der Reservekanisterier für unseren 6 PS Außenborder zu verzichten.

Nach ungünstiger Winddrehung mit entsprechendem Hack gegenan brauchten wir den Motor mehr als geplant. Die bangen Sekunden mit schräggehaltenem Tank vor der Einfahrt in Cuxhaven mit der RoRo-Rampe stromabwärts im Nacken werde ich nicht vergessen!

In Cuxhafen war der Weg zur nächsten Tankstelle dann viermal so lang und aufwendig wie auf Helgoland!

LEARNING: Danach sind wir nie wieder NICHT zum Tanken gefahren und fahren immer mit vollem Tank und reichlich Reserve los. Als wir z.B. mit der TS Roter Sand den Nordatlantik von Hamburg nach Quebec überquerten, erreichten wir  St. John / Neufundland mit 50% Treibstoff-Reserve.

OBWOHL…doch ist es uns vor kurzem wieder passiert:

Bei der Überführung eines modernen Motor-Trawlers mit 20 kn Marschgeschwindigkeit kalkulierten wir eine Sprit-Reserve von 60 sm auf einer Strecke von 220 sm. Das schien uns ausreichend. Nach der Hälfte der Fahrt passte es dann schon nicht mehr, da das Schiff mehr verbrauchte als angegeben. Wir entschieden uns sicherheitshalber für eine Änderung des Zielhafens, um die Distanz um 20 sm zu verkürzen. 10 sm vor dem Ziel passte es wieder nicht und trotz Sparfahrt von 6 Kn fiel die Tankanzeige in Sichtweite des neuen Ziel-Hafens von 60 l auf 0 l und blieb da.
Was tun? Auf 40m Wassertiefe an der felsigen Küste in Legerwall ankern, um mit dem Beiboot Diesel zu holen?
Oder die felsige Einfahrt riskieren und auf eine fehlerhafte Anzeige setzen?
Oder treiben lassen mit leerem Tank und externe Hilfe rufen?
Wir bereiteten uns für alle Fälle vor, riggten also Beiboot und Schleppleine und fuhren sehr, sehr langsam mit eingekuppelter Maschine in den Hafen, um dann festzustellen, dass vor uns 20 Wassersportfahrzeuge an der Tankstelle warteten! Nach banger Zeit des Treibens und Diskutierens mit den wartenden Schiffen konnten wir eine Leinenverbindung herstellen und Tanken, Glück gehabt!

Internationales Recht befolgen oder Solidarität unter Umweltschützern gewähren?

Bei der Überführung der Roter Sand musste ich etliche Dilemmata entscheiden, die tragischen Charakter hatten.
Tragik entsteht immer dann, wenn beide Entscheidungs-Möglichkeiten zum Nachteil führen.
Das ist der Stoff für Sagen: egal, was der Held macht – er kommt um!

Mitten auf dem Atlantik wurde mir klar, dass ein Teil der Crew beim Crewwechsel in Shetland einen Passagier eingeschmuggelt hatten, der für Kanada kein Visum hatte. Ich hatte die Pässe der neuen Crew kontrolliert und nicht bedacht, dass im Gegensatz zu Europäern Brasilianer ein Visum für Kanada benötigen. Dieser Teil der Crew hatte geplant mit dem Schiff zunächst im einsamen neufundländischen Norden an Land zu gehen und den verdienten Umweltschützer-Kollegen so illegal ins Land zu schmuggeln.
Ein Sturm zwang uns, die Route zu ändern mit St. John als Einklarierungshafen, wodurch das geplante Vorhaben unmöglich wurde. Also zettelten diese Crewmitglieder mitten auf dem Atlantik eine Meuterei an und wollten das Schiff und den Kurs unter ihre Kontrolle bringen. Die Meuterei konnte ich mit Hilfe der treuen  Crewmitglieder abwenden und schlief dann nur noch stundenweise und mit Schusswaffe in Reichweite.

Crew und Eisberge vor Neufundland im Juni!

Meine Köchin an Bord, eine erfahrene Krankenschwester, wies mich darauf hin, dass der illegale Mitsegler regelmäßig Spritzen gebrauchte. Daraufhin stellte ich ihn zur Rede und nahm mit seinem Einverständnis eine offizielle Visitation von Koje und Gepäck vor. Dabei stellte sich heraus, dass er im Besitz verschiedener Drogen war, die er sich auf der Toilette spritzte und für die trotz seiner Schmerzerkrankung keine Rezepte vorlagen. Das bedeutete zusätzliche Probleme an Bord durch illegale Drogen und ein nicht einsetzbares Crewmitglied, das eine Gefahr für sich und andere darstellte!!!

FAZIT: Ich stellte ihn zu seinem Schutz sofort wachfrei, er durfte nicht mehr ohne Begleitung an Deck und wir verständigten die kanadischen Behörden. Danach war ich für die rebellierende Hälfte der Crew der „German Nazi“.

Bis zum Einlaufen in St. John versorgte sich das frei gestellte Crewmitglied unter medizinischer Aufsicht selbst, kurz vor dem Hafen vernichteten wir alle illegalen Drogen. Der Zoll kam an Bord mit vielen Formalitäten im Schlepptau und setzte den Illegalen ins nächste Flugzeug zurück in sein Heimatland Brasilien; der meuternde Teil der Crew wurde umgehend gegen verlässliche Mitglieder ausgetauscht und musste von Bord gehen. 

Um das Auftreten von Bedingungen zu vermeiden, die zu Dilemmata führen können, habe ich mir 5 Prinzipien zu eigen gemacht:

1.

Zeit nehmen!

Nicht unter Zeitdruck fahren, z.B. ein Drittel für den Hinweg, zwei Drittel für den Rückweg. Hektik und Termindruck führen zu Unfällen.
2.

Transparenz für alle an Bord

Der Skipper klärt über die Situation und seine Einschätzung dazu auf; wer mitfährt, ist mit dem Vorschlag einverstanden und trägt die Folgen eigenverantwortlich zu 100%. Wer nicht einverstanden ist, bleibt solange an Land und findet unterstützt von uns andere Möglichkeiten.
3.

Reflexion

Diskussion nach dem Törn, z.B. am Abend im Hafen. Anweisungen der Verantwortlichen werden umgesetzt. Alle tragen zum Gelingen bei.
4.

Sicherheitsreserven haben Priorität.

Insbesondere bei der Einschätzung der Nahrungsvorräte, Energiereserven, Zeitfenster, Navigationsdistanzen, Crew-Kondition und Kraft, Materialstärke, Windpotential und Reisegeschwindigkeit.
Dabei schwanken unsere Reservemargen zwischen 50% und 300%.

5.

Crew hat Vorrang! 

Vor allen anderen Bedürfnissen ist die Gesundheit und Sicherheit der Crew das höchste Gut an Bord.